Der Titel von Free – The Future of a Radical Price spielt dabei mit der doppelten Bedeutung des englischen Wortes als "frei" und als "gratis", wobei der Fokus bereits im Untertitel klar auf letzterer liegt. "Free" als ein "radikaler Preis" geht laut Anderson mit disruptiver Innovation einher. Disruptiv bedeutet, dass neue Akteure die etablierten Player herausfordern und bisweilen sogar aus dem Geschäft drängen können.
Die neuen Geschäftsmodelle reduzieren dabei den Umsatz der Etablierten stärker, als sie selbst neuen Umsatz generieren. So hat Microsofts CD-ROM-Enzyklopädie Encarta mit einem Bruchteil des Umsatzes um ein Vielfaches mehr Menschen mit Enzyklopädien versorgt als zuvor die Encyclopedia Britannica, bevor 2009 auch Microsoft vor der übermächtigen und kostenlosen Wikipedia-Konkurrenz kapitulierte und das Produkt einstellte. Anderson zufolge wurden dabei zwar Umsätze reduziert, aber keineswegs Werte vernichtet. Im Gegenteil, die Reduktion der messbaren Umsätze ging mit einer enormen Steigerung des kollektiv verfügbaren Wissens einher; mit Werten also, die sich breit verteilen, aber schlechter messen lassen als der Umsatz mit Enzyklopädien zuvor.
Leitwährung Aufmerksamkeit …
Was sich online hingegen besser messen lässt als offline, genau das ist für Anderson der zentrale Erfolgsfaktor in digitalen Märkten: Aufmerksamkeit, gemessen anhand von Klicks, Reputation und über Verlinkungen. Verdient wird nicht mit Inhalten, sondern an Aufmerksamkeit und Reputation, die mit Inhalten einhergehen und über Suchmaschinen wie Google oder auf Plattformen wie Facebook, Twitter oder Ebay vermittelt werden. Diese Vermittler sind gleichsam die Zentralbanker der Internet-Ökonomie: Sie verwalten verschiedene Aufmerksamkeits- und Reputationswährungen. Was bei Google der "PageRank" ist, sind bei Facebook die "Freunde" und "Likes", bei Twitter die "Follower" oder bei Ebay die Bewertungen.
Demnach gelte auch im Internet das ökonomische Gesetz: Jeder Überfluss erzeugt neue Knappheit, welche wiederum Verdienstmöglichkeiten eröffnet. Wenn Journalisten ihre Jobs verlieren, ist das Anderson zufolge die Schuld ihrer Arbeitgeber, die keine neue Rolle in einer Welt finden, die durch den Überfluss an Information gekennzeichnet ist. Aber aus diesem «Blutbad» werden, so prognostiziert es Anderson, mehr professionelle Journalisten hervorgehen, weil auch Journalisten außerhalb traditioneller Medienhäuser eine Möglichkeit haben, auf den Informationsmärkten mitzuwirken.
… vs. Zerstörung der Kreativität
Ganz anders argumentiert Robert Levine, Autor des 2011 erschienen Buchs Free Ride und ebenfalls Journalist, Autor bei Vanity Fair, Rolling Stone und wie Anderson bei Wired. Auch bei Free Ride verrät der Untertitel die darin vertretene Hauptthese: "How Digital Parasites are Destroying the Culture Business, and How the Culture Business can Fight Back". Die Kulturindustrie wird also von "digitalen Parasiten" zerstört – und darunter versteht Levine nicht nur die üblichen Verdächtigen wie Musik- oder Filmpiraten, sondern vor allem auch jene neuen Vermittler wie Google oder Facebook, die in Free wiederum gefeiert werden. Wo Anderson die "kreative Zerstörung" lobt, die der Ökonom Joseph Schumpeter unternehmerischem Handeln attestierte, ebenda warnt Levine vor Zerstörung von Kreativität.
Levines Perspektive auf das Internet versinnbildlicht ein kurzer Satz in der Einleitung: "Like TV, the Internet is only as good as what’s on." Demnach ist das Internet in erster Linie ein Content-Lieferant. Es gibt also eine Industrie, zuständig für Produktion und Distribution von Inhalten, das Internet ist dafür nur ein neues Trägermedium. Gleichzeitig zeigt das, in welche Richtung es aus Levines Sicht gehen soll: Aus dem Internet soll ein besseres und interaktiveres Kabelfernsehen mit Zeitungskiosk, Videothek und Jukebox werden. Ein Internet mit sauberen Angeboten, gerne auch für schmutzige Inhalte, aber ohne Piraten, ohne Hacker, ohne Viren, ohne große Risiken.
Das wichtigste Werkzeug, um sich dieser Vision anzunähern, ist für Levine das Urheberrecht. Zusätzlich zu den Verschärfungen der letzten Jahre – wie dem Verbot der Umgehung von Kopierschutztechnologien – fordert er, Ausnahmeregeln wie das Fair-Use-Prinzip in den USA einzuschränken und Rechte effektiver durchzusetzen. Die Proteste gegen das Anti-Piraterie-Abkommen ACTA waren für Levine deshalb auch "eine neue Menschenrechtsbewegung, aber gegen die Menschenrechte von Kreativen", wie er über Twitter verlautbarte. Und konsequenterweise sieht Levine auch im Bereich des Journalismus gesetzgeberischen Handlungsbedarf. So kritisiert er, dass es Aggregatoren wie Google News oder der Huffington Post erlaubt ist, kurze Auszüge oder Zusammenfassungen von Nachrichteninhalten zu erstellen, vergleichbar den Positionen der deutschen Presseverleger im Streit um ein neues Leistungsschutzrecht. Levine zufolge war die Welt also vor dem Internet-bedingten Wandel im Großen und Ganzen in Ordnung – und diese alte Ordnung gilt es nun mit Hilfe schärferer Gesetze wiederherzustellen.
Neue Kulturtechniken entstehen
Stellt man nun die beiden konträren Sichtweisen Andersons und Levines nebeneinander, dann fällt auf, dass sie sich in einem Punkt völlig einig sind. Beiden geht es um "Free" im Sinne von "Freibier". Sie sind sich nur uneinig darüber, ob Informationsmärkte unter den gegebenen gesetzlichen Rahmenbedingungen noch funktionsfähig sind oder ob bereits Marktversagen vorliegt. So unterschätzen beide, Levine noch mehr als Anderson, was das eigentlich disruptive Potenzial des Internets ausmacht – es ermöglicht und befördert die Entstehung neuer Kulturtechniken: das weltweite Teilen (sharing) und das kreative Transformieren (remixing) von Inhalten durch sämtliche Internet-Nutzer auch und vor allem jenseits marktlicher Anreizstrukturen. Ein gemeinschaftliches Projekt wie Wikipedia beruht auf freiwilliger und unbezahlter Mitarbeit, Facebook und Youtube wiederum würden nicht funktionieren, wären sie nur auf Inhalte der Unterhaltungsindustrie angewiesen. Umgekehrt gilt schon eher, dass die Unterhaltungsindustrie in der digitalen Ökonomie darauf angewiesen ist, dass ihren Inhalten auf diesen Plattformen Aufmerksamkeit zuteil wird. Wen das ökonomische Potenzial und der gesellschaftliche Mehrwert neuer Formen von Öffentlichkeit interessiert, die anstelle von Märkten verstärkt auf digitalen Gemeingütern (commons) basieren, der muss sich deshalb anderen Autoren wie zum Beispiel Harvard-Professor Yochai Benkler zuwenden. In seinem Band The Wealth of Networks zeigt er, welche Bedeutung die "Commons-based Peer-Produktion" im Netz von heute hat – und wie sich mittels Wikis, Blogs und freier Software nicht nur Marktpreise, sondern auch Agenda-Setting und damit Öffentlichkeit ändern. (2)
"Top-down" vs. "bottom-up"
Denn welche Themen, welche Inhalte in den Medien verkommen, das wird immer noch wesentlich von einer kleinen Gruppe größtenteils weißer und männlicher Chefredakteure überregionaler Agenturen und Medienhäuser festgelegt – gleich, ob frei zugänglich oder hinter einer Bezahlschranke. Der mediale Filter funktioniert nach dem Top-down-Modell: Zuerst wird ausgewählt und dann veröffentlicht. Umgekehrt ist es beim commons-basierten Agenda-Setting außerhalb dieser etablierten Bahnen. Zuerst wird veröffentlicht und erst im Zusammenspiel aus Blogosphäre, Suchmaschinen und sozialen Netzwerken verdichtet sich über Verlinkungen, über Likes und Tweets die Aufmerksamkeit der digitalen Öffentlichkeit.
Diese alternative Logik generiert Öffentlichkeit nicht notwendigerweise für wichtigere, in vielen Fällen aber für andere Themen. Das Ergebnis ist einerseits eine Unmenge an Katzenbildern. Es ist aber auch zivilgesellschaftlicher Protest, wie anlässlich der geplanten Einführung von Netzsperren in Deutschland im Jahr 2009, zuletzt etwa gegen die Wahlfälschungen in Russland und länderübergreifend gegen das ACTA-Abkommen. Hier besteht der Gewinn des Internets darin, jenseits von "Free" und "Free Ride" die Meinungs- und Redefreiheit für mehr und mehr Menschen zu stärken.
Endnoten:
(1) Kalifornische Ideologie: Die britischen Sozialwissenschaftler Richard Barbrook und Andy Cameron prägten den Begriff in ihrem 1995 veröffentlichten Aufsatz "The Californian Ideology". Sie verbinde das Erbe der Hippie-Bewegung aus San Francisco mit dem unternehmerischen Geist der High-Tech-Industrien von Silicon Valley. Diese Gegensätze seien in einem technologischen Determinismus verschmolzen, meinten Barbrook und Cameron.
(2) Commons-based Peer Production: Yochai Benkler versteht darunter ein kooperatives Produktionsmodell. «Peer» steht für eine Gruppe gleichberechtigter Teilnehmer, die ein Gut produziert; "Commons-based" für das Ergebnis, das auf offenem Wissen aufbaut und Gemeingut ist; hier greift er auf die ökonomische Theorie der Commons (Allmende) von Elinor Ostrom zurück. Zugleich versteht er darunter das Organisationsprinzip einer arbeitsteiligen Wertschöpfung, das er dem Modell des nutzenmaximierendem Homo oeconomicus gegenüberstellt. Den Begriff prägte er zuerst in seinem Aufsatz "Coase’s Penguin, or Linux and the Nature of the Firm" (2005) und entfaltete ihn in seinem Buch The wealth of networks. How social production transforms markets and freedom (2006).
SCHRIFTEN ZU BILDUNG UND KULTUR, BAND 11
Öffentlichkeit im Wandel - Medien, Internet, Journalismus
Verlage und Sender suchen derzeit intensiv nach neuen Verwertungs- und Distributionsmodellen. Die Öffentlichkeit ist im Wandel – mit gravierenden Folgen für den Journalismus. Die vierte Gewalt demokratisiert sich: Neue Akteure treten im Internet auf und verändern den professionellen Journalismus durch neue Formen. Auf Kosten der Qualität? Über zwanzig Autorinnen und Autoren gehen dieser Frage nach.